Am 9. Oktober 2017 um 15.14 Uhr verstarb der über die Landesgrenzen seiner bayerischen Heimat hinaus weithin bekannte Porsche-Restaurateur Thomas Knoll aus Welshofen – viel zu früh, im Alter von nur 53 Jahren. Carsten Krome, im Mai 2007 als Chefredakteur der Monatszeitschrift “Porsche Scene Live” in Sulzemoos vor den Toren der Stadt Augsburg bei Auto Knoll erstmals zu Besuch, erinnert sich an überaus prägende Begebenheiten im Juni 2013.
“Papa, haben wir jetzt Bayern verpasst?” Die Frage verschlägt mir fast die Sprache. Neben mir, im Kindersitz festgeschnallt, sitzt Lily. Meine Tochter ist fünf Jahre und ein paar Monate alt, ein halbes Jahr später werden ihre Eltern sich trennen. Im friedlichen Einvernehmen zwar, dennoch ist es für ein Kind im Vorschulalter ein Einschnitt. Noch am Morgen vor der Abreise nach Welshofen hat es geknirscht im Gebälk. Dennoch: Es hat kein Zurück mehr gegeben an diesem 7. Juni 2013, einem Freitag. Nicht nur das erste organisierte Fotoshooting für das halbfertige Medienprojekt werk1 – kein einziger Vertrag ist zu diesem Zeitpunkt unterschrieben – veranlasst zu der 648 Kilometer langen Reise. Es ist vor allem eine E-Mail, die fast auf den Tag genau zwölf Monate zuvor, am 10. Juni 2012, eingegangen ist. Der Absender: Thomas Knoll, damals 48, Porsche-Restaurateur – und Freund. Der erste Kontakt ergibt sich zufällig, im Sommer 2006, aufgrund von Recherchen zu einer Geschichte über Michael Irmgartz und dessen Klon eines Porsche Carrera RS 3.0. “Retro” und “Backdating” sind damals noch keine Modewörter so wie heute. Anfang Mai 2007 findet bei Thomas Knoll und seinem erstaunlichen Vater Hermann ein erster Foto-Sammeltermin mit einem Haufen “gemachter” Porsche statt, einen Tag nach Weihnachten 2008 der zweite. Beide Ereignisse rahmen einen Meilenstein ein: die Geburt meiner ersten und wohl auch einzigen Tochter. Als ich im Mai 2007 zum ersten Mal nach Sulzemoos im Umland von Augsburg aufbreche, dort leben und wirken die Knolls, weiß ich erst seit wenigen Tagen von meiner Vaterschaft. Die werdende Mutter, vor Gott und Gesetz nichts weiter als meine Freundin, gibt mir den folgenden Satz mit auf den Weg: “Du hast jetzt eine Verantwortung, fahre bitte entsprechend!” Mit einem ausgeborgten VW Caddy TDI aus dem Fundus des Hertener Medien-Großmoguls Welke ist kein motorisierter Wahnwitz zu befürchten. Es sei denn, man kippt ihn um, den etwas schmuddeligen Lieferwagen mit dem windschiefen “Chrom & Flammen”-Aufkleber.
Am Ziel angekommen, warten zwei hocherfreute Menschen, Vater und Sohn Knoll, unter dem Torbogen einer scheinbar Jahrhunderte alten Hofanlage. Ihre Zuneigung ist nicht gespielt, das merke ich sofort. Feine Antennen sagt man und besonders frau mir nach, und mit den Jahren werden sie – durch Erfahrung notabene – immer sensibler. Sie bitten mich in den großen Vorraum ihrer Werkstatt. Auf dem Tisch erwartet mich eine zünftig-bayerische Brotzeit – und mittendrin eine dampfende Kaffeetasse mit einem Porsche-Wappen. “Schau, was draufsteht!”, fordert Hermann Knoll mich auf, und mich trifft fast der Schlag: “Carstens Kaffeehaferl”. Wo ist mir zuletzt, in einem Klima belehrender Leserbriefe und dem ewigen Gerede über Verkaufszahlen, ich kann es damals schon nicht mehr hören, so viel ehrliche Wertschätzung entgegengebracht worden? Ich weiß es nicht, und schon damals macht es mich fast wütend. Hat die Verlegergröße, deren angestellter Chefredakteur ich nach der freiwilligen Unterbrechung meiner Selbstständigkeit bin, überhaupt verstanden, worum es in “seiner” Porsche Scene Live geht? Damals schon fasse ich den Gedanken, eigene Wege zu gehen. Im Dezember 2006, wenige Monate zuvor, habe ich mit meiner Freundin Sandra in Berlin bei Dunkin’ Donuts am Bahnhof Zoo gesessen und aus dem Fenster geschaut. Wir haben unsere Zukunft skizziert, und ich habe meinem eigenen Magazin, meinem Baby, einen Namen gegeben: My Heaven Eleven. Doch ich traue mir den Absprung nicht zu, fasse statt dessen einen anderen Plan: Ich will den zehnten Geburtstag von Porsche Scene Live am 9. August 2012 als Chefredakteur erleben – nicht ahnend, dass es einer der schäbigsten Tage meines Berufslebens sein wird. Die E-Mail von Thomas Knoll am 10. Juni 2012 fällt genau in diese Zeit. Zum alljährlichen Frühlingsfest “ins Baziland”, wie er es selbst formuliert, hat er mich eingeladen – und von mir “einen Korb” erhalten. Wieder einmal, wie er noch feststellt. Durch seine Zeilen schimmert Enttäuschung. Was er nicht weiß: Ich habe absagen müssen, um die monatlich anfallenden Arbeiten an der Zeitschrift Porsche Scene Live nicht zu gefährden. Die weite Reise nach Bayern bindet grundsätzlich drei Tage, und die stehen ganz einfach nicht zur Verfügung. Trotzdem: Der Stachel sitzt tief, und eigentlich steht schon am 10. Juni 2012 fest: Im nächsten Jahr bin ich dabei – komme, was wolle!
Dass Lily ein knappes Jahr später dabeisein wird, liegt in weiter Ferne. Als Kind einer diplomierten Sozialpädagogin wird sie von ihrer Mutter maßgeblich geprägt. Der Aufbruch nach Welshofen am 7. Juni 2013 markiert meinen ersten großen Selbstversuch vor dem Auszug: drei Tage allein mit dem unbekannten Wesen Kind, fern der Heimat, fern der Mama – das kann nur schiefgehen! Tut es dann aber nicht, auch wenn die Fahrt nicht zu hundert Prozent ereignislos verläuft. Auf halber Strecke, irgendwo bei Pforzheim, wird mir bewusst, dass ich stets in den ganz entscheidenden Lebensphasen zu den Knolls unterwegs gewesen bin. Kurz vor dem Ziel versagen die Akkus von iPhone und iPad im Paarlauf. Aus trüber Erinnerung geht es in Odelzhausen von der Autobahn herunter, von gegenüber grüßt Sulzemoos mit seinem schlanken, weiß getünchten Turm. Wie geht es weiter? Kopflos führt die Route über unbekannte Straßen, vorbei an Gasthöfen, an einer Straßenkreuzung links, durch ein Dorf nach dem anderen, bis zu einem weiteren Ortseingang. Dort parkt ein Auto am Straßenrand, dessen Fahrer soeben ausgestiegen ist. Aufmerksam mustert der Mann das Kennzeichen meines steingrauen VW New Beetle TDI, der auf den Namen “Ferdinand” hört, 8.500 Euro gekostet hat und in Münster zugelassen ist. Das amtliche Kennzeichen lautet MS WE 901 – das steht nicht für “Welke” wie vielfach angenommen, das steht für “Werk”. Nur die Eins ist nicht auf den ersten Blick zu identifizieren. “Auch ich bin ursprünglich aus dem Flachland”, lächelt er mit einem mitleidigen Seitenblick auf das äußerst verschlafen dreinblickende Kind im Beifahrersitz. “Wo soll es denn eigentlich hingehen?”, fragt er. Die korrekte Antwort müsste lauten: “Zum Wirt nach Orthofen”, doch dazu müssten beide Apple-Geräte noch Akku haben. Das freilich ist nicht der Fall, und so höre ich mich mit dem Mut der Verzweiflung sagen. “Zum Knoll, das ist der mit den alten Porsche-Kisten. Ich bin nämlich der Carsten Krome von der Porsche Sc…” … und dann vollführe ich eine verbale Vollbremsung. Wenige Wochen zuvor, am 17. Mai 2013, habe ich nach sechs Jahren Theater um Gehaltszahlungen, Umbuchungen, Schuldfragen – und Verkaufszahlen natürlich! – entnervt das Handtuch geschmissen. Vorerst bin ich nur der Carsten Krome ohne das schmückende Beiwerk eines Magazintitels. Dem freundlichen Passanten aus Sankt Irgendwo am gefühlten Ende der Welt ist das von Herzen gleich. “Der Knoll, der wohnt doch mit der Manu in Orthofen – das sind nur sieben Kilometer, da fahre ich doch mal vor, das finden Sie nicht!” Und so fügt sich dann doch noch alles. Mit den ersten zwei Prozent Akku muss die Mama über die glückliche Ankunft unterrichtet werden. Sie erfährt, dass das Kind gut untergebracht ist, in einem kürzlich erst zur Edel-Herberge umgebauten Kuhstall. Und die damals Fünfjährige konstatiert: “Wir hätten fast Bayern verpasst!” Zum Glück sagt sie nicht: “Der Papi hat …” Loyales Kind.
Am nächsten Morgen muss noch vor dem Frühstück ein Durcheinander aus mitgebrachten Taschen entwirrt werden. Die wichtigte ist vor vier Jahrzehnten aus dickem, schweren Leder genäht worden und dem Betriebshof der Stadt Münster mit knapper Not entronnen. Mein Vater hat sie in einem Zustand vollkommener Überforderung entsorgen wollen, als er inmitten der Trennungsszenarien zwischen Tisch, Bett und Arbeitsplatz auch noch umzieht. Die alte Ledertasche, eine Erinnerung an meine Mutter Renate, beherbergt nun meinen ganzen Stolz, ein neues Nikon-Objektiv. Jahrelang habe ich es mir erträumt, und zum Ende meiner elfeinhalb Jahre “Porsche Scene Live” belohne ich mich damit selbst. Die private Zuwendung eines Mentors aus den späten achtziger Jahren macht es trotz ausstehender Gehaltszahlungen möglich – was mich früher verharren ließ, macht mich nun umso stärker. Das Objektiv, Lichtstärke 2.8 durchgehend und mit 70 bis 210 Millimetern Brennweite, ist noch unbenutzt. Gleich fünf Porsche sollen heute, an diesem 8. Juni 2013, ins rechte Licht gerückt werden. Vor der Haustür sitzt der dunkelhäutige Credric auf einer hölzernen Bank, auch er ist ein Gast der Knolls, auch er sieht dem Tag in freudiger Erwartung entgegen. Dann geht es los, höchstens sechs Kilometer weit, durch Wald, Feld und wilde Kurven. Auf einmal liegt da Welshofen-Erdweg, nach dem Umzug von Sulzemoos der neue Standort von Vater und Sohn. Die Begrüßung nach viereinhalb Jahren ist so unbekümmert wie eh und je, auch wenn Thomas Knoll sich äußerlich verändert hat. Sein leuchtender Rotschopf ist einem Steingrau gewichen, und hart gearbeitet hat er! Anders ist die Masse an schönen Porsche-Aufbauten nicht zu erklären. “Such dir die besten aus!”, lacht er, und schon geht es los, von einer Location zur anderen. Lily weicht mir zu keinem Zeitpunkt von der Seite. Zur Sicherheit habe ich ihr Kinderfahrrad in einem akrobatischen Akt auf der Rückbank des Neuzeit-Käfers verstaut, fröhlich pedaliert sie durch die Landschaft. Die mir anvertrauten Kunden sind allesamt höflich und nett, und einer von ihnen schießt dabei den Vogel ab: Rainer Kress. Mit fast zittriger Hand fingert er die Erstausgabe der Porsche Scene Live hervor und bittet um ein Autogramm – MICH fragt er das, wirklich glauben kann ich das nicht! Das Kind ist derweil an einem Flusslauf verschwunden, um mitgebrachte Sprudelflaschen mittels Kieselsteinen und trübem Wasser in Souvenirs aus Bayern zu verwandeln. Und erst die Katzen! Überall schleichen sie herum, eine hat sogar einen Namen: Filou. Der (Produktions-)Tag verläuft so leicht, wie es der frankophile Tiername vermuten lässt.
Am frühen Abend ist dann alles im Kasten, schnell wird noch zusammen gegessen, während im Hintergrund der Abbau beginnt – und es noch ein Familienfoto gibt. Thomas und Hermann Knoll bleiben bewusst in der zweiten Reihe zurück. “Wir sehen uns morgen!”, ruft Thomas mir zu, “klingel kurz durch, bevor du fährst!” Und so endet ein Porsche-Fototag, der ein Auftakt zu viereinhalb harten Jahren werk1 gewesen sein soll – und doch endet er nicht. Eben erst zurückgekehrt in die gute Stube beim Wirt in Orthofen, zeigt sich ein akuter Notstand an Getränken. Also noch einmal losgefahren, noch einmal nach Welshofen-Erdweg! Dort herrscht nun völlige Ruhe, die Sonne ist hinter dem Kirchendach untergegangen, und eine der Katzen balanciert von der hohen Friedhofsmauer weiter über den Dachfirst des Kirchenschiffs. Ihre Umrisse zeichnen im Halblicht ein eindrückliches Bild. Ein Einheimischer kommt des Weges, und vom abgeparkten Volkswagen des preussischen Eindringlings hält er rein gar nichts. “Moagst raufa?” bölkt er durch das heruntergelassene Seitenfenster. Natürlich, nach elfeinhalb Jahren Ruhrpott-Kultur jetzt auch noch eine Schlägerei in Bayern anzetteln – das würde dem so passen! Lily und ich machen uns aus dem Staub, wir rollen weiter nach Odelzhausen zur Tankstelle. Und sogar aus der 648 Kilometer fernen Heimat kommt ein Friedensangebot: “Du, ich habe dir blau-orange Sportschuhe gekauft!” Die Nacht bricht früh herein, und sie verläuft wie früher nach einer Bergtour durchs Allgäu: glücklich und zufrieden. Beim Frühstück am nächsten Morgen erklingt im Gastraum ein Lied von den Sportfreunden Stiller: “Applaus, Applaus – für Deine Worte, mein Herz geht auf, wenn Du lachst!” Lilys Blick schweift derweil durch den Raum, an einem Kruzifix in der hintersten Ecke bleibt er haften. “Papa, warum haben die Menschen den Jesus aufgehängt?”, fragt sie mich auf einmal. Glaubensfragen in einem Bundesland, das die CSU regiert. Was antworten? Ich improvisiere und manövriere mich mitten hinein in die scheinbar unbeantwortete Frage: “What I believe in”. Da ist viel mehr Fundamentales, als ich dachte! Tiefer will ich nicht schürfen, und wollte der Thomas nicht noch kommen? Er, der nur 60 Meter weit entfernt auf der anderen Straßenseite wohnt, steht auf einmal da, in einer schwarzen Lederjacke, mit einer Zigarette in der Hand. Wir setzen uns nach draußen vor das Haus, auf den Schotter. Zum Glück findet Lily gegenüber eine Weide mit Tieren und ist beschäftigt. 20 Minuten bleiben uns, und Thomas hat tausend Fragen. Was ich denn nun eigentlich vorhabe, wie mein Projekt genau aussehen werde und wann es denn nun losginge. Die ganze Zeit wirkt er, als sei er auf dem Sprung – so als spüre er, dass ihm nicht viel Zeit bliebe. Dabei sind Lily und ich es doch, die über Augsburg den Heimweg antreten müssen. 648 Kilometer zurück.
Epilog. Es ist Montag, der 23. Oktober 2017. Am nächsten Morgen soll es für drei Tage nach Bayern gehen, mit Lily und meiner Kamera, wie im Juni 2013. Auf dem Weg zu einem Produktionstermin in Weßling bei München, so der Plan, soll es eine Kaffeepause in Welshofen geben. Bei Vater und Sohn Knoll – endlich wieder einmal! Ahnungslos wähle ich die altbekannte Telefonnummer, am anderen Ende der Leitung meldet sich auch jemand mit “Knoll”. Ich frage leichthin: “Der Hermann oder der Thomas?” Die Antwort reißt mir den Boden unter den Füßen weg: “Nein, hier ist der Hermann, den Thomas habe ich am vergangenen Freitag begraben – 150 Leute waren da!” Der alte Herr muss das Gespräch bald beenden, weiter reicht seine Kraft nicht. Drei Tage später, ich will mit meinem Besuch keine Unruhe stiften, lege ich eine stille Gedenkminute an der Tankstelle von Odelzhausen ein, 13 Kilometer vom Geschehen entfernt. Hier habe ich Lily am 9. Juni 2013 eine kleine Plüschkatze gekauft – als bleibendes Andenken an Filou und seine Artgenossen. Sie besitzt die kleine Katze bis heute.
Thomas Knoll, vor einem Jahr an Krebs erkrankt, ist 53 Jahre alt geworden. Die Begegnungen mit ihm waren stets prägend, ja: Sie waren lebensbegleitend. Wenn Manuela, seine Lebensgefährtin, in einer E-Mail davon berichtet, das Unbegreifliche begreifen zu müssen, dann kann ich mich dem nur anschließen. In aller Demut. Ich konnte nicht immer bei dir sein, mein Freund, und doch habe ich eins: die Tage im Juni 2013 nie vergessen. Für Tage wie diese bin ich einen harten, einen sehr steinigen Weg gegangen. Meinen Weg. Das hat uns stets verbunden.
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