Am 14. Oktober 2018 endete auf dem Hockenheimring eine Ära. Zum letzten Mal nahm Mercedes-Benz an einem DTM-Lauf teil, und das nach 30 Jahren. Wirklich neu war diese Situation allerdings nicht. Denn am 25. September 1996 stürzte schon einmal der Himmel über der Renommier-Rennserie ein.
Damals zogen sich die Werksteams von Opel und Alfa Romeo, nur um Stunden versetzt, aus der ITC (International Touringcar Championship) zurück. Einzig Mercedes-Benz stand damals in Treue fest hinter der einstigen Bundesliga der Tourenwagen, die an ihrer Internationalisierung und einer beispiellosen Kosteneskalation gescheitert war. Bis zu 100 Millionen D-Mark hatten die beteiligten Hersteller in eine einzige ITC-Saison investiert und sich immer verwinkelte Technologie-Spielchen einfallen lassen. Mercedes-Benz ließ zuletzt sieben neue Gitterrohrrahmen-Prototypen der C-Klasse entstehen. Einer jener sieben zeigte auf dem Bilster Berg, dass sein vor mehr als zwei Jahrzehnten ausgefeiltes Innenleben auch heute noch mit erstklassigem Sportgerät mithalten kann. Als Benchmark liefen vier Porsche 911 auf von der aktuellen GT3-Version bis hin zum Gruppe-H-Bolden aus der VLN. Die Tageslosung lautete: #PreciselyWhite. Die klassische Rennfarbe Weiß war Pflicht für alle, und der hochkomplexe Daimler unterstrich umso mehr seine Extraklasse in der League of Performance.
„Hier drin sieht’s ja genauso aus wie damals!“, amüsiert sich ein Mittvierziger mit unverkennbar nordischem Akzent. Es ist Sonntag, der 21. Mai, und tatsächlich spielt sich die Szene in einer dänischen Stadt ab. Es ist Renntag in Aarhus, der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2017, und für Jan Magnussen, aufgewachsen in Roskilde, ist es ein Heimspiel. Bevor er in die Lenkradspeichen eines Chevrolet Camaro im Danish Thundersport Championship, kurz DTC, greift, nimmt er im Fahrerlager schnell noch eine Sitzprobe. Der Oldenburger Unternehmer Jörg Hatscher hat ihn dazu eingeladen. Der Mittfünfziger von der südlichen Nordsee, wie er selbst zu sagen pflegt, sammelt originale Mercedes-Benz aus der DTM, acht nennt er inzwischen sein Eigen. Darüber hinaus hat er sich in minuziöser Fein- und Detailarbeit einen Ersatzteilfundus angelegt, der seinesgleichen sucht. Jede für tauglich erachtete Baugruppe schweißt er in Folie ein, um Alterungsprozessen aus dem Weg zu gehen. Dabei unterstützt ihn Thorsten Stadler als technischer Einsatzleiter. Der gelernte Seemann aus Hannoversch-Münden unterhält einen hochgradig spezialisierten Fachbetrieb, in dem er DTM-Preziosen mit dem guten Stern auf dem Kühlergrill für seine Kunden in Bewegung hält. Für sich selbst hält er eine C-Klasse des Jahrgangs 1994 bereit, die zur Urzeit von Ellen Lohr in der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft gefahren worden ist. Ein Jahr später übernahm der Betzdorfer Uwe Alzen das Chassis, mit einem Motor der neuesten Bauart schaffte der Westerwälder auch im Jahreswagen den Durchbruch auf einen der Podiumsränge.
Natürlich ist Thorsten Stadler nicht weit, als Jan Magnussen in Aarhus das Zelt der neuen Kult-Rennserie “Tourenwagen Classics” betritt. Der Däne war 22 Jahre alt oder jung, als er 1996 jene C-Klasse von Mercedes-Benz pilotierte, die nun Jörg Hatscher besitzt – und auch fährt. Beim weißen Viertürer handelt es sich um eins von sieben Gitterrohrrahmen-Exemplaren, die im letzten Jahr der ITC als letzte Ausgeburten der Klasse 1 aufgebaut worden sind. Geschätzter Neuwagenpreis damals: 750.000 D-Mark. Geschätzter Marktwert heute: derselbe Betrag in Euro. Dabei spielt es keine Rolle, dass das Chassis auf dem Norisring 1996 eine unfreiwillige Stauchung erlitt, im Gegenteil: Sie ist Teil der Identität der höchst seltenen Preziose. In der welligen Anbremsphase zur Grundig-Kehre am Ende der Start-und-Zielgeraden des Nürnberger Stadtkurses raste Magnussen in den Notausgang. Zwar kam der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Formel 1 tätige Nord-Mann mit dem Leben davon, den Zwischenfall hat er freilich bis heute nicht vergessen. Auf einen möglichen Gasteinsatz auf dem Norisring als Partner Jörg Hatschers – 2017 sind die Tourenwagen Classics im Rahmenprogramm der DTM vor Ort – angesprochen, wird der ansonsten so fröhliche Jan Magnussen auf einmal todernst. “Nie wieder setze sich mich auf dem Norisring in dieses Auto!”, sagt er bestimmt, und selbst der ansonsten so auffallend nervensichere Thorsten Stadler würde sich nicht unterstehen, jetzt zu intervenieren. Es gilt die Losung: “Ein Mann, ein Wort – woanders übrigens gerne!”
Vielleicht auf dem Bilster Berg, an einem Dienstag im August? Die Idee kommt, spontan, wie sie ist, noch vor Ort in Aarhus auf. Nur zwei Tage, an einem Dienstag im Mai, findet am Rand der Test- und Rennstrecke im Teutoburger Wald das erste Vorgespräch statt. Der Zieltermin: keine drei Monate später. Der Arbeitstitel: #PreciselyWhite Volume 1. Dreh- und Angelpunkt ist der weiße Mercedes-Benz, den nach Jan Magnussens Crash mit Juan Pablo Montoya sowie Riccardo Zonta noch zwei weitere Formel-1-Piloten in der ITC ausführen. Als wäre das der Besonderheiten nicht genug, ließ sich Magnussen auf dem Hockenheimring als erster Tourenwagen-Pilot mit mehr als 300 km/h Topspeed messen – ein lange Zeit für unmöglich gehaltener Bestwert. Doch dank der pneumatischen Ventil-Steuerung im 2,5 Liter großen Sechszylinder-Motor können 510 PS bei 11.500/min erreicht werden, mehr als 60 PS gegenüber dem Vorjahr. Auf einem Schlitten im Fahrzeugheck kann das in der ITC vorgeschriebene Platzierungsgewicht je nach Bedarf nach vorne oder auch nach hinten bewegt werden, um die Traktion zu verbessern. Gegenüber den Allrad-Modellen von Opel und Alfa Romeo ist dieser Trick nur in der ersten Saisonhälfte ausreichend, um ganz vorne mitzumischen. Jan Magnussen, noch im Cockpit sitzend, ruft dazu in Aarhus eine Situation ins Gedächtnis, die er bildhaft wiedergibt: “Das war in Magny Cours. Hinter mir war einer der Alfa, ich glaube, mit Nicola Larini. Ich konnte unter meinem Helm hören, dass er bereits voll auf dem Gaspedal stand, wenn ich noch nicht daran denken konnte. Die Allrad-Modelle konnten einfach sehr viel früher ans Gas, und das war am Ende natürlich ausschlaggebend in der Meisterschaft. Wie wir alle wissen, holte Manuel Reuter mit dem schwarzen Cliff-Calibra von Joest Racing den Titel.”
Übrigens ist Jan Magnussen terminlich verhindert, als am 8. August um Punkt 13.00 Uhr ein weißer Mercedes-Benz C-Klasse ITC 1996 und vier hochkarätige Porsche auf dem Bilster Berg eintreffen, um an der Premiere von #PreciselyWhite teilzunehmen. Da auch Jörg Hatscher nicht aktiv mitwirken kann, in der Verantwortung für mehr als 100 Mitarbeiter unter der Woche kein allzu großes Wunder, vertritt ihn Thorsten Stadler als Referenzfahrer. Mit einem verschmitzten Lächeln reist der Südniedersachse als Tabellenführer der Tourenwagen Classics an. Sein Sieg auf dem Norisring war sein persönliches Highlight, live übertragen vom Fernsehsender Sport 1 und, in Nürnberg eine eherne Tradition, von 100.000 Rennbesuchern gesehen. Eine Rundenzeit-Vorgabe gibt es auch, selbst wenn Rekorde auf dem Bilster Berg gern wie eine geheime Kommandosache gehandhabt werden und von offizieller Seite vorzugsweise nicht in Umlauf gebracht werden. Als Driving Resort definiert sich die landschaftlich schön angelegte Berg- und Talbahn eher als ein exklusiver Club denn als eine für jedermann zugängliche Rennstrecke. Dennoch sickern da und Bestleistungen durch, vorzugsweise von leichtgewichtigen Prototypen vorgelegt. Ihnen kommt die Charakteristik der Anlage sehr entgegen. Eine verwertbare Richtzeit setzt Arnd Meier am 7. August 2016. Der Hannoveraner, dem die ganz große Weltkarriere in der US-amerikanischen Indycar-Serie verwehrt geblieben ist, dominiert an diesem Sonntag ein 30-Minuten-Rennen der DMV-BMW-Challenge und legt in 1:49,773 Minuten die absolute Bestzeit vor. Das Fahrzeug: ein BMW der Baureihe E46 in der Spezifikation der Tourenwagen-Weltmeisterschaft.
“Unter 1:50 Minuten” lautet denn auch die Devise bei #PreciselyWhite Volume 1. Thorsten Stadler versichert, Arnd Meiers Zeitvorgabe auf dem 4,189 Kilometer langen Kurs bereits unterboten zu haben. “Jörg Hatscher und ich sind desöfteren hier unterwegs, um Funktionstests vorzunehmen”, erklärt der Endvierziger, der in personeller Vollbesetzung aufgelaufen ist. Ein fünfköpfiges Team aus Mechanikern und Technikern umsorgt die modular konstruierte C-Klasse von Mercedes-Benz, deren Front- und Heckpartie jeweils einteilig abgenommen werden kann. Das erleichtert das Arbeiten am Innenleben, das von filigranen Hebelwerken bestimmt wird. Falls gewünscht, kann im Fahrbetrieb nicht nur auf die Traktion eingewirkt werden, in dem das Platzierungsgewicht auf einem Schlitten hin- und herbewegt wird. “Mit der Zeit ist es uns gelungen, an die wichtigsten technischen Zeichnungen zu kommen”, erläutert Thorsten Stadler bereits im Rennfahrer-Overall, “so haben wir das Auto immer besser verstanden.” Dass es mehr als 20 Jahre alt ist, wird in keinem Detail sichtbar. Vielmehr nimmt sich der Benz neben den vier aufgelaufenen Porsche 911 absolut modern und zeitgemäß aus. Die Riege der Elfer führt der aktuelle GT3 R der Modellgeneration 991.1 an, eingesetzt von Manthey-Racing für den Kundenpiloten Otto Klohs aus Ludwigshafen am Rhein. Exakt dieser Fahrzeugtyp beschert dem Eifel-Rennstall, an dem die Porsche AG eine Mehrheitsbeteiligung hält, beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring den nun schon sechsten Gesamtsieg. Ebenfalls in der Grünen Hölle unterwegs ist der Kremer-Porsche 997 K3, der auf einer Cup-Version der Generation 997 basiert und äußerlich den berühmten Siegerwagen der 24 Stunden von Le Mans aus gleichem Haus zitiert.
Von optisch weniger spektakulärem Auftritt, sportlich aber ähnlich hoch einzuschätzen, sind zwei Cup-Porsche 911. Ex-DTM-Star Altfrid Heger steuert den einen: eine originalgetreue Replik seines Meisterschaftswagens der Generation 964, mit dem er in einer mitreißenden Partie mit Uwe Alzen den ersten Porsche Pirelli Supercup für sich entschied. Neueren Datums und mindestens genauso schnell ist der 2002 von Mike Rockenfeller im Porsche Carrera Cup Deutschland gefahrene 911 GT3 Cup der Baureihe 996.2, den nun der junge Niederländer Larry ten Voorde für die Cup Classics GmbH aus Lohne ausführt. “Eine H-Schaltung, die kenne ich nur aus meinem VW Golf, den ich zurzeit auf der Straße fahre”, lacht der Hochbegabte und begrüßt seine Fahrerkollegen: Jan Michels wird den Manthey-Porsche bewegen, der stets bis in die Haarspitzen motivierte Wolfgang Kaufmann aus Molsberg im Westerwald das Kremer-Exemplar. Zwei Tage nach einem Ausflug in den Bergrennsport rollt der schneeweiße Flachschnauzer-Porsche – #PreciselyWhite eben! – noch immer auf butterweichen Avon-Slickreifen. Doch schon bei der Fahrerbesprechung wird deutlich, dass die 1:49,773 Minuten nicht zu unterbieten sein werden – jedenfalls nicht an diesem Tag. Das hat mit streckenspezifischen Zusammenhängen zu tun. Die Rundenzeiten pendeln sich bei 1:51,00 Minuten ein, und das gilt für alle fünf Hochleistungs-Rennwagen.
Thorsten Stadler nimmt’s gelassen. Zwar sind die Betriebskosten des Mercedes-Benz, auf eine Runde gerechnet, nicht zu verachten. Doch er verbucht den Nachmittag auch als einen letzten Test vor dem wenige Tage später anstehenden Oldtimer-Grand-Prix auf dem Nürburgring. Dort übernimmt wieder Jörg Hatscher sein angestammtes Volant, während Stadler selbst in seine zwei Jahre ältere C-Klasse steigt. “Entscheidend ist”, resümiert er nach dem Verladen der edlen Materie in den Renntransporter, dass heute absolut nichts kaputtgegangen ist. Alle haben sich diszipliniert an die klaren Absprachen gehalten. Daran sieht man, dass hier Leute vom Fach am Werk gewesen sind.” Und ein Wunsch, der bleibt: “Ich fände es auch nicht schlecht, eine rein markengebundene Veranstaltung dieser Art in die Tat umzusetzen – angesichts meiner Kundenfahrzeuge würde die wahrscheinlich eher #PreciselyBlack heißen!” Dass am Ende des Tages keine Rundenzeitenliste veröffentlicht wird und damit auch keine Rangfolge, stört niemanden ernsthaft. Auch den ehrgeizigen Wolfgang Kaufmann nicht. Er grinst: “Was ich herausfinden wollte, habe ich heute herausgefunden!” Niemand war so lange auf der Piste wie er, der Langstrecken-Spezialist. Fazit: Die League of Performance hat sich zum Klassentreffen eingefunden, ungezwungen und doch hochkonzentriert. Und der älteste Rennbolide am Platz war der heimliche Star. Mit 510 PS, die das heutige Porsche-Establishment gleichsam von der Kette lässt – in jedem der fünf Fälle ohne Turbo. Der klassische Benz und das schnelle Elfer-Quartett: Sie haben mehr gemeinsam, als man zunächst annimmt!
Epilog.
Dass Thorsten Stadler und Jörg Hatscher bei den Tourenwagen Classics erstklassige Arbeit abliefern, beweisen die Punkte-Endstände der Jahre 2017 und 2018. Zweimal setzt sich Stadler als Titelträger gegen seinen Freund und Rennstall-Kollegen Hatscher durch. Als Zünglein an der Waage erweist sich jedesmal die hochentwickelte Technik des 1996er-ITC-Mercedes. Sie beschert großartige Erfolge, aber eben auch Niederlagen. Dennoch: Als Mercedes-Benz aus der heutigen DTM nach 30 Jahren plangemäß aussteigt und die Tourenwagen Classics im Rahmenprogramm auf dem Hockenheimring zeitgleich ihr Saisonfinale austragen, kommt es zum großen Showdown mit Starbesetzung. Klaus Ludwig steigt zu Jörg Hatscher ins Auto und gewinnt, während sich Bernd Mayländer zu Thorsten Stadler ins Cockpit gesellt und den zweiten Gesamtrang belegt – ein eindrucksvoller Beitrag zum Abschied von Mercedes-Benz aus der DTM. Gesteuert von Jörg van Ommen, geht sogar noch ein dritter Klasse-1-Bolide an den Start, auch dieser aus dem Fundus von Jörg Hatscher und von Thorsten Stadler wieder ans Laufen gebracht. Dabei handelt es sich um das Chassis, mit dem der gebürtige Moerser 1995 in den Farben von Tabac Original in der letzten DTM-Saison vor der Umwidmung in die ITC auf den zweiten Rang in der Punktwertung hinter seinem Markenkollegen Bernd Schneider kam – hochkarätiger geht es wohl kaum.
Verantwortlich für Inhalt und Fotografie: Carsten Krome Netzwerkeins
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