‘Ach, Du meine Güte!’ Der Videograf Marius Althof drückte geistesgegenwärtig auf den Auslöser, als die Sportmoderatoren-Legende Rainer Braun (damals 76, re.) und Carsten Krome am Norisring 2017 zusammentrafen.

Tach zusammen,

Sternstunden – man sollte sie nicht verschlafen!

Was machen Sie eigentlich am Sonntagmorgen um sechs Uhr früh? Früher war es ja sehr beliebt unter Porsche-Liebhabern, um diese Uhrzeit den Neunelfer aus der Garage zu holen und bis zum allgemeinen Aufwachen über leergefegte Straßen zu toben. Spätestens um zehn war der Spuk dann vorüber, und es hieß: ‘Game over’. Ein Ingolstädter Autohersteller machte sich dieses Phänomen zu Eigen. Audi stellte 2006 die Rückkehr in den heimischen Hangar für ein Werbeplakat nach. Mit einem damals neuen TT Roadster.

Am 2. Juli des Jahres 2017 erwachte ich in einem Nürnberger Hotelbett aus einem Alptraum. Morgens früh um sechs quälte mich der Gedanke, tüchtig zu verschlafen, mich erst kurz nach zehn aus den Federn zu wühlen. Wäre das wirklich geschehen, wäre die Welt gewiss nicht stehen geblieben. Im Gegenteil: Sie hätte sich weiter gedreht. Hätte ich allerdings verschlafen, wären mir gut und gerne 100.000 Menschen, allesamt DTM-Fans draußen am Norisring, als Zuhörer entgangen. Natürlich habe ich kurz nach zehn nicht mehr im Hotelbett gelegen, dafür war meine Aufregung viel zu groß. Ich hatte nämlich die Ehre, nach der Überleitung durch die Sportmoderatoren-Legende Rainer Braun (damals 76), meinem persönlichen Vorbild schon seit dem 42. Int. ADAC-Eifelrennen Nürburgring am 29. April 1979 auf dem Nürburgring, als Streckensprecher in Aktion treten – sicher nicht zum ersten Mal in meinem Leben, aber: Mit der vollbesetzten Steintribüne gleich gegenüber, in diesem Setting, war es für eine Sternstunde von bleibendem Wert. Gerade jetzt, aus heutiger Sicht, in Zeiten von Corona.

Nun sollte man annehmen, ich hätte am Norisring am 2. Juli 2017 ein Rennen kommentiert, in dem es um Porsche gegangen sein könnte, den Carrera Cup Deutschland zum Beispiel. Doch weit gefehlt – zum einen ist das seit Jahr und Tag die Domäne des Kollegen Burkhard Bechtel, zum anderen hielt zu diesem Zeitpunkt ein anderes Faszinosum die Branche in Atem: klassische Renntourenwagen. Geschaffen für ehemalige DTM-, ITC- und STW-Fahrzeuge, erfreute sich ein am 6. September 2015 auf dem Salzburgring gestartetes 40-Minuten-Format allergrößter Beliebtheit. Dazu gehörte auch, dass Rainer Braun mit seiner überaus markanten Stimme ein Ankerpunkt des großen Ganzen war. Er brachte die typische Atmosphäre längst vergangener DTM-Schlachten in die Stadien zurück. Und als ich am 18. Juni 2017 die Nürburgring Classic anlässlich des 90-jährigen Bestehens der Rennstrecke mit den Kameras besuchte und nach vielen Jahren tatsächlich wieder Rainer Brauns Stimme als Begleitmusik zu den Rennmotoren hörte, packte auch mich eine Welle der Begeisterung. Wie selbstverständlich kam ich zwei Wochen später an den Norisring – und erfuhr dort am Samstagnachmittag um zehn nach fünf, dass ich am Sonntagvormittag das 40-minütige Rennen der Tourenwagen-Klassiker als Streckensprecher begleiten würde.

Gut – drei Jahre zuvor hatte ich auf dem Stadtkurs im Herzen Nürnbergs schon einmal die “Norisring Race Classics” als Streckenkommentator begleitet und Besuchergruppen durch das Fahrerlager geführt. Die meisten Autos im Starterfeld waren immer noch dieselben. Und doch war die Intensität diesmal eine ganz andere. Ich fragte natürlich nach, warum Rainer Braun den Job denn nicht mache – er war ja schließlich vor Ort. Doch er sollte bei einer Fernsehübertragung auf “Sport 1” mitwirken, beides ging nicht gleichzeitig, und so kam ich nach 2014 zum zweiten Mal auf dem Norisring zum Einsatz. Die Vorbereitung: neun gemeinsame Moderationsminuten am Samstagabend mit Harald Grohs – und mit Rainer Braun. Da rutschte mir das Herz dann endgültig in die Hose, 38 Jahre nach der ersten Hörprobe hoch oben über der Breitscheidbrücke, auf einem heute zugewucherten Landabsatz am Rande der Nürburgring-Nordschleife. Ich hatte zu dieser Zeit immer einen ITT-Kassettenrekorder, an ein einfaches Mono-Mikrofon gekoppelt, bei den Rennen mit dabei, und ich war keine dreizehn Jahre alt.

Später schallte, sehr zum Leidwesen meiner viel zu früh verstorbenen Mutter Renate, immer wieder derselbe Satz durch mein Kinderzimmer: “Da kommt die dicht gestaffelte Spitze aus der Nordregion!” Ich hatte diesen Satz am 29. April 1979 beim Renault-5-elf-Pokal auf dem Nürburgring aufgenommen, und er wurde zum Evangelium meiner Jugendzeit. Ja, ich gebe es heute zu – irgendwann konnte ich diesen Satz nicht nur nachsprechen, sondern auch Rainer Brauns Stimme mehr oder weniger perfekt imitieren. Genauso wie die von Stefan Bellof, von Hermann Joha, dem Stuntman, von Altkanzler Willy Brandt, von Helge Schneider, von vielen anderen – reihenweise fielen sie darauf rein, und besonders gut gelang mir meine gut gemeinte Parodie auf den Dänen Kris Nissen. Ich hatte mich längst damit abgefunden, allenfalls gelegentlich mal ein Rennen auf dem Nürburgring zu kommentieren wie an Pfingsten 2005 die Porsche Classic Car Kumho Trophy. Da war dann auch der alte Kassettenrekorder, bedient von meinem Vater auf der Tribüne T3 gleich gegenüber der Streckensprecher-Kabine, wieder im Einsatz. Mit diesem kargen Rüstzeug, viereinhalb Jahre Lokalradio im Essen der neunziger Jahre lasse ich der Einfachheit halber mal weg, kam ich am 2. Juli 2017 zu meinen neun Moderationsminuten mit Rainer Braun.

Dieses Ereignis sollte sich nie wiederholen – ach, halt, stopp! Da war noch was, und zwar am Freitag, dem 13. September 2019, auf dem Nürburgring. Da nutzte ich eine Talkrunde mit alten Meistern der DTM, Rainer Braun als Interviewpartner in die Bütt zu holen. Er schrieb mir später, dieser Perspektivwechsel sei ihm zum ersten Mal in seinem Jahrzehnte währenden Reporterleben untergekommen. Ich wusste nicht, ob ich stolz darüber sein oder vor Wut platzen sollte, denn Ton und Technik waren an diesem Abend eine einzige Katastrophe, und unweigerlich besann ich mich eines Satzes, den Rainer Braun mir am 19. Juni 2018 im Treppenhaus des Start-und-Zielhauses auf dem Nürburgring mit auf den Weg gegeben hatte: “Keine zehn Pferde bringen mich in den Livestream!” Damals, vor zweieinhalb Jahren, verstand ich seine klare Haltung nicht, heute sehr wohl. Da beschweren sich “User” des Online-Produktes Motorsport allen Ernstes darüber, dass Moderatoren während eines Rennens moderieren – während manche lieber den Motoren lauschen möchten. Hatte Journalismus nicht immer die Funktion des kommentierenden Begleitens? Ich habe mich während der denkbar kurzen Saison 2020 mehr als einmal gefragt, was wohl ein Rainer Braun mit seinem reichen Erfahrungsschatz den allzu oft juvenilen “Kritikern” aus dem Netz geantwortet hätte.

Ich hingegen habe es bis jetzt vorgezogen, gar nichts dazu zu sagen. Denn: Ich bin nicht der Rainer Braun, ich habe nicht die DTM im Fernsehen präsentiert. Dennoch hatte ich die Gelegenheit, einem Idol meiner Kindertage von 1988 an bei mehr als einer Gelegenheit persönlich zu begegnen und meinen Respekt von dem Impulsgeber meines eigenen Schaffens nie zu verlieren. Die 41 Jahre alte Kassette vom Renault-5-elf-Pokal besitze ich noch immer. Vielleicht höre ich später mal hinein …

Heute, am 14. November 2020, feiert Rainer Braun nämlich 80. Geburtstag, und dazu gratuliere ich ganz herzlich!

 

In diesem Sinne bin ich

Ihr und Euer Carsten Krome

… und ich bin raus, dankeschön!

 

Postscriptum: Diese Redewendung habe ich nach dem 2. Juli 2017 in mehr als 100 Übertragungen aus dem Rennsport zum Besten gegeben. Eingefallen ist sie mir in den allerletzten Sekunden “on air” am Norisring, übrigens angelehnt an einen Song der Hamburger Indierockband Kettcar, die im Oktober 2002 ihr Debütalbum “Du und wieviel von deinen Freunden” veröffentlichte – unter anderem mit dem Stück “An den Landungsbrücken raus”. Ich hatte den Titel jahrelang während der Arbeiten am Magazin “Porsche Scene Live” in meinem Hertener Büro auf dem Rechner gehört.

Sternstunde am 2. Juli 2017 auf dem Norisring: letzte Worte vor dem Einsatz als Streckenkommentator.