Es ist traurige Gewissheit: Jürgen Neuhaus, der am 29. Juni des vergangenen Jahres seinen 80. Geburtstag feierte, weilt nicht mehr unter uns. Am 17. Februar 2022 endete das Leben eines wahrhaft großen Rennfahrers – Erinnerungen an einen Menschen, der bis zuletzt ein Musterbeispiel der heute vielzitierten “Alten Schule” gewesen ist.
Männer ohne Nerven – wo der Spaß aufhört. Glanzlichter im 80 Jahre währenden Leben des Jürgen Neuhaus.
Nürburgring, 29. Mai 1977, ADAC-1.000-Kilometer-Rennen. Der vierte Lauf zur Marken-Weltmeisterschaft ist das Heimspiel der Porsche-Gilde. 60.000 Zuschauer säumen die Nordschleife, als sich die 935, 934 und Carrera auf ihre lange Reise begeben. Sie sind die eindeutigen Favoriten. Andere Fabrikate wie Ford oder BMW sind zwar vertreten, für den Tagessieg kommen sie allerdings kaum in Frage. Sie können allenfalls Achtungserfolge erzielen im Feld der 57 Starter. Und so geht es um die Frage, welcher Porsche nun das Rennen machen wird – der Werkswagen in den Sponsorfarben des Martini Racing Teams oder eins der vielen Kundenfahrzeuge, die für viel Geld verkauft worden sind. Und die sich trotz alledem nicht auf dem Entwicklungsstand des Porsche 935/77 der Werksfahrer Jacky Ickx und Jochen Mass. befinden. Nur den beiden Formel-1-Stars steht eine in aerodynamischer Hinsicht völlig überarbeitete Karosserie zur Verfügung. Im Training können sie auf dem 22.835 Kilometer langen Eifelkurs pro Runde annähernd 30 Sekunden schneller fahren als die führenden Privatkunden-Teams. Mit einer Rundenzeit von 7:59.700 Minuten erreichen der Finne Leo Kinnunen, der Hanauer Architekt Albrecht Krebs und Routinier Jürgen Neuhaus aus Wuppertal dennoch den sechsten Startplatz. Das Trio teilt sich den Porsche 935 turbo des Kölners Dachdeckers Josef Brambring, der in den Sponsorfarben eines Möbelhauses Rennen fahren lässt.
Im Vorjahr hat sich Josef Brambring noch mit einem Porsche Carrera RSR an der Deutschen Automobil-Rennsportmeisterschaft beteiligt. Besonderes Kennzeichen: ein leuchtend gelber „Smiley” vorn auf der Haube. Damit hat Jürgen Neuhaus, sein Stammfahrer, mehr als einmal die inoffizielle Saugmotor-Wertung vor seinem Wuppertaler Lokalrivalen Edgar Dören fest im Griff. Inoffiziell, weil 1976 das erste Jahr des Porsche 934 mit dem rund 480 PS leistenden Einzellader-Motor ist. Mit 330 PS aus drei Litern Hubraum stehen die RSR auf verlorenem Posten – eigentlich. Doch die neue Turbo-Technologie ist anfangs diffizil in der Handhabung, oft genug gehen auch Motoren kaputt. Dann schlägt die Stunde der zuverlässigen RSR, die obendrein einfacher zu beherrschen sind. Als 1977 die Gruppe 5 in der Rennsportmeisterschaft ankommt, hat der RSR auf einmal ausgedient. Gegen die PS-Raketen ist er chancenlos. Als ausgewiesener Langstrecken-Läufer soll er in der GT-Europameisterschaft ein Betätigungsfeld finden. Doch die einst beliebte Serie platzt. So muss auch Josef Brambring das Einsatzgerät wechseln. Er bestellt im Werk einen neuen Porsche 935 mit der Fahrgestellnummer 930 770 0907.
Jürgen Neuhaus wird am 13. März 1977 im belgischen Zolder die Ehre zuteil, den „Möbel Franz-Porsche” in Betrieb zu nehmen. Dies erledigt der 35-Jährige mit Bravour: Auf den dritten Platz im Training folgt beim Saisonauftakt der Rennsportmeisterschaft ebenfalls der dritte Platz und damit ein erster Podiumsrang. Doch schon beim zweiten Lauf am 27. März 1977 ändern sich für ihn die Vorzeichen. Das ADAC-Goodyear-300-Kilometer-Rennen findet auf der Nürburgring-Nordschleife statt – für Dachdecker Brambring und seinen Geldgeber, das Möbelhaus Franz, eine Prestigeangelegenheit vor der eigenen Haustür. Gegen die Kölner Lokalheroen Loos und Kremer will er groß auffahren. Für viel Geld wird Jochen Mass verpflichtet, statt Jürgen Neuhaus den neuen 935er zu steuern. Der Bad Dürkheimer „mit den Oberarmen eines Orang Utans” (O-Ton Hans Heyer) ist seit dem Großen Preis von Deutschland am 1. August 1976 ein Publikumsliebling. Der Hobby-Seefahrer nährt die Hoffnungen seiner Landsleute auf den Formel-1-Sieg eines Deutschen. Das kann freilich auch der Bayer Hans-Joachim “Strietzel” Stuck, der ebenfalls in der höchsten Spielklasse des Motorsports antritt und in der Rennsportmeisterschaft einen BMW 320i steuert.
Er fordert Jochen Mass nur indirekt zum Duell, denn beide treten in unterschiedlichen Hubraum-Divisionen an. Was der für einen Tag eingekaufte Star zu leisten imstande ist, zeigt er im Training: In 7.52,4 Minuten stellt er den Brambring-Porsche auf den dritten Startplatz hinter Rolf Stommelen und Manfred Schurti. Im Rennen beklagt er einen nachlassenden Motor und fällt hinter Bob Wollek auf den vierten Platz zurück. Teambesitzer Brambring veranlasst das zu der Aussage, „na, da könne er doch lieber den Neuhaus ans Steuer lassen – der koste nichts und komme ebenfalls auf vierte Plätze”. Der Angesprochene, 35-jährig und im Porsche 917 zu Beginn der siebziger Jahre einer derer, die vom Pulverdampf umhüllt sind, ist zu dieser Zeit bereits ein Edel-Amateur. Der Wuppertaler Sohn eines Textilfabrikanten und Betreiber der Diskothek „Dudelsack” über mehr als 25 Jahre kann es sich leisten, auf Honorarforderungen zu verzichten. Dabei ist er vollkommen unerschrocken und schnell zugleich.
Das alles weiß auch Jürgen Kannacher aus Krefeld. Der gelernte Maurer hat einen florierenden Handel mit gebrauchten Porsche-Ersatzteilen aufgebaut, der sich immer mehr zu einer Drehscheibe für Renn- und Unfallwagen ausweitet. Dem Niederrheiner haftet derselbe „Männer ohne Nerven”-Nimbus an wie seinem Namensvetter Neuhaus – solche Charaktäre erkennen einander mit verbundenen Augen. Und so kommt der Verschmähte doch noch zu einem Einsatz beim ADAC-Goodyear-300-Kilometer-Rennen – und was für einem! Kurzfristig wird ihm eine 1976 noch vom Solinger Industriellen Egon Evertz in der Marken-Weltmeisterschaft an den Start gebrachte Gruppe-5-Version angeboten. Neuhaus staunt allerdings nicht schlecht, als er am Nürburgring eintrifft und feststellt, dass sich der Wagen kurz vor dem ersten Zeittraining noch weitestgehend „im Neuaufbau” befindet. Es handelt sich dabei um einen Restbestand, der nach Egon Evertz’ Karriereende eilig an Jürgen Kannacher verkauft worden ist. Der Wagen, der von einem 2.993 ccm großen Einzellader-Motor aus dem 934 angetrieben wird und daher auch einen in die Fahrzeugfront verlegten Kühlwasser-Kreislauf besitzt, nimmt aus einem einfachen Grund teil: Es soll sichergestellt werden, dass bei lediglich elf Startern volle Meisterschaftspunkte vergeben werden. Treten nämlich weniger als zehn Teilnehmer an, gehen alle punktelos aus – und für eine Nullrunde ist der Kostenaufwand damals schon zu hoch. Vorsichtshalber schreiben die Veranstalter zusätzlich ein mit 50.000 D-Mark dotiertes Geldrennen aus. Das dominiert – ausgerechnet – Jochen Mass, diesmal im vollen Besitz seiner Motorleistung.
Jürgen Neuhaus hingegen kommt nicht so recht in die Gänge. Die 8.56,8 Minuten, die er als beste Trainingszeit notieren lässt, entsprechen nicht seiner üblichen Form. Und so verlegt er sich darauf, im Rennen seiner Aufgabe als edler Punktelieferant nachzukommen. Zu Jürgen Kannachers Großaufgebot gehören der Krefelder selbst im neu bestellten 935 turbo mit der Fahrgestellnummer 930 770 0904 sowie der junge Österreicher Franz Konrad im letztjährigen Kremer-Porsche 935 K1 006 00019. Nach drei von sieben Runden hat Neuhaus seine Pflicht und Schuldigkeit getan: Er rollt mit Getriebeschaden aus – in der guten Gewissheit, fünf Wochen später mit dem Brambring-935 turbo an den Nürburgring zurückzukehren. Jürgen Kannacher nimmt dies zum Anlass, seinem angeborenen Geschäftssinn nachzugehen. Er verkauft nicht nur das orange Ex-Evertz-Fahrgestell, sondern trennt sich gleichzeitig auch vom eigenen 935er. Der Schweizer Unternehmer Claude Haldi übernimmt den Einzellader, der im Grenzbereich als eine große Herausforderung gilt. In der Folgezeit verschwindet Kannacher bis zum Erwerb diverser BMW M1 plötzlich von der Bildfläche. Mit den Hintergründen seines Rückzugs ist er in späteren Jahren erfrischend offenherzig umgegangen.
„Die Schwierigkeit beim Porsche 935 bestand im starren Durchtrieb”, hat Jürgen Kannachers Namensvetter Neuhaus zu berichten gewusst, „wenn Du mit dem Hinterrad auch nur ganz leicht auf einen Randstein gekommen bist und der war rutschig, dann gab es kein Halten mehr. Jedenfalls hast Du mit Gegenlenken nichts mehr ausrichten können.” Ab 1978 steht den Porsche-Kunden alternativ ein Sperrdifferenzial zur Verfügung – die Vermutung, dass ausgewählte Klienten wie Georg Loos diese Lösung bereits ein Jahr zuvor „erproben dürfen” und dies insbesondere bei Regen von Vorteil ist, wird von offizieller Seite nicht bestätigt. Beim 40. Int. ADAC-Eifelrennen am 1. Mai 1977, abermals auf der Nürburgring-Nordschleife, kann Jürgen Neuhaus im „Möbel Franz”-935er unter Beweis stellen, dass er Jochen Mass in nichts nachsteht. In 7.54,2 Minuten kommt er bis auf 1,8 Sekunden an die Trainingszeit des Formel-1-Piloten heran. Als er im Rennen den dritten Rang hinter Sieger Bob Wollek im neuen Vaillant-935 K2 von Porsche Kremer und Rolf Stommelen belegt, ist die Welt für den Wuppertaler wieder in Ordnung. Grinsend steht er auf dem Podium, umgeben von den großen Stars dieser Zeit. Er weiß, dass er es noch mit allen aufnehmen kann. Das hat er bereits im Porsche 908 02 Ende der Sechziger erkannt, als er Jo Siffert in Jarama geradezu deklassiert. Der Spanier Alex Soler-Roig stellt anschließend den Kontakt zu einem Sponsor her, der gemeinsam mit Jürgen Neuhaus eine Legende begründet: Gesipa. Das Unternehmen stellt Blindnieten her, wie sie auch in Porsche-Fahrzeugen verwendet werden. Da liegt es nahe, zunächst einen 908 02 und nach ersten Auftritten ein 917 Coupé im Werk jeweils neu zu bestellen.
Speziell mit dem gewaltigen 917er, der aus Gründen der Gewichtsersparnis für die Interserie in einen Spyder umgewandelt wird, wächst Jürgen Neuhaus über sich selbst hinaus. Er zeigt keine Furcht vor dem Zwölfzylinder-Motor, in der Interserie liefert er sich Gefechte mit den Weltbesten. Nur bei den 24 Stunden von Le Mans darf er nicht antreten. Der Langstrecken-Klassiker ist zu seiner Zeit ein Einladungsrennen, doch eine Einladung erhält er nicht. Anscheinend mangelt es ihm an Lobbyisten, an Fürsprechern. An ausbleibenden Erfolgen kann es kaum liegen: 1970 sichert er sich den Titelgewinn in der Interserie – es ist der erste in den Annalen der inoffiziellen Europameisterschaft und gleichzeitig der Höhepunkt eines Sportlerlebens, das 1961 mit einem Alfa Romeo am Berg beginnt. 16 Jahre später ist die Rennfahrer-Laufbahn des Jürgen Peter Paul Neuhaus am Scheideweg angekommen. Am 29. Mai 1977 – vier Wochen sind seit dem erfreulich verlaufenen Eifelrennen vergangen – darf er noch einmal in Brambrings 935 Platz nehnen. Beim 1.000-Kilometer-Rennen auf dem Nürburgring teilt er sich das Cockpit mit Albrecht Krebs und einem anderen Großmeister der Interserie, Leo Kinnunen aus Finnland. 1976 ist der Nordeuropäer – ausgerechnet! – mit jenem Evertz-Porsche 934/5 in Erscheinung getreten, den Jürgen Neuhaus am 27. März 1977 beim 300-Kilometer-Rennen als eine reichlich lahme Kiste erlebt.
Auf der Weltmeisterschaftsbühne kommt das ungleiche Duo aus der Interserie bestens zurecht, Kinnunen/Neuhaus/Krebs haben sogar Siegambitionen. Nachdem der Werks-Porsche 935/77 zunächst einen Frühstart hinlegt und im weiteren Verlauf des Rennens ganz zurückgezogen wird, liegt der Brambring-Porsche nach 19 von 44 Runden auf einmal in Führung. Dann bricht das Gasgestänge, eine simple Schweißnaht an einem Umlenkhebel, der mit der Drosselklappen-Welle verbunden ist, reißt. Die überraschenden Erstplazierten müssen aufgeben – und Jürgen Neuhaus gibt noch mehr auf. An Ort und Stelle beendet der 35-Jährige seine Karriere als Rennfahrer – zu tief enttäuscht ist er, um weitermachen zu können. Auf den Rückzug folgt die Nachricht vom Tod Josef Brambrings. Bis heute heißt es, ein Schuss aus einer Pistole habe sich gelöst – so ganz von selbst. Ob es Selbstmord war oder ein Unfall, konnte nie aufgeklärt werden. Die Rochaden beginnen. Der Porsche 935 geht im Juli 1977 in den Besitz von Franz Konrad über. Der 26-jährige Grazer mit Wohnsitz in Gütersloh kommt im Vorjahreswagen von Kremer nicht an die Rundenzeiten der Kunden-935er aus dem Werk heran. Seinen roten 935 „K1″ vermietet er zunächst an Peter Hähnlein, ehe er ihn an dem Luxemburger John Lagodny weiterverkauft. Auch den Ex-Brambring-935 vermarktet er schon bald an Volkert Merl weiter, um 1978 in eine neue Doppellader-Version umzusteigen. Der Hamburger Ölkaufmann übernimmt das Volant, ehe der Bergheimer Reifenhändler Paul Mahlke den Einzellader-Porsche 1979 ankauft, mehrere Male umbaut und umlackiert. 1981 kommt der Rennveteran nach 49 dokumentierten Einsätzen – 1981 in Monza brennt er bei der Marken-Weltmeisterschaft um Haaresbreite ab – bei Jürgen Kannacher an. 100.000 D-Mark statt der ursprünglichen 160.000 ist der nochmals umlackierte Gruppe-5-Bolide zu diesem Zeitpunkt noch wert.
Dass Jürgen Neuhaus den feuerspeienden 935er trotzdem nicht als das Lieblingsauto seiner aktiven Zeit bezeichnet hat, verwundert wenig. Das sei, verklärte der damals 75-Jährige in einem Pressegespräch im Frühjahr 2017, ein roter Porsche 911 L gewesen – übrigens ein Musterbeispiel für seine Spezialität, auf ein sorgsam austariertes Fahrwerk zu setzen. Vielleicht war dies auch der Grund, warum er – ganz im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen von einst – anschließend noch seinen Lebensabend genießen konnte. Er hatte 1977 festgestellt, wo der Spaß für ihn aufhörte. Und um etwas anderes war es ihm nie gegangen im Renngeschäft. Bis zuletzt nicht: Mit Akribie dokumentierte er seine wilden Jahre im Pulverdampf des Motorsports. Ab und zu setzte er sich für eine Demonstrationsfahrt noch einmal ans Steuer, so zum Beispiel bei der Hockenheim Historic. Dann war es für noch einmal so wie 1977, in einer anderen Zeit. Einmal sagte er am Rande einer solchen Darbietung: “Warum ich keine Rennen mehr fahre? Ganz einfach – ich möchte einmal in einem Bett sterben, nicht in einem Rennauto.” Jürgen Neuhaus, der bis zum Ende seiner Tage ein Musterbeispiel der heute vielzitierten “Alten Schule” gewesen ist, wurde 80 Jahre alt.
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