Am 5. Oktober 2019 feierte Klaus Ludwig 70. Geburtstag. Schon Monate zuvor stand fest: Er würde im Renncockpit einer C-Klasse von Mercedes-Benz sitzen, nicht an einem Kaffeetisch. Und das, obwohl er Ende 1998 bereits seinen Rückzug aus dem Profi-Motorsport verkündet hatte – mit damals 49 Jahren, als soeben gekürter GT-Weltmeister. In diese Phase fallen verschiedene Begegnungen, an die sich Autor und Zeitzeuge Carsten Krome allzu gerne erinnert. Sie zeichnen ein facettenreiches Bild von „König Ludwig“, der zu seinen Glanzzeiten mehr polarisierte als jeder andere deutsche Rennfahrer.
„Junge, Dich wollte ich schon immer mal mitnehmen!“, nuschelt es unter dem weiß-blau-schwarzen Helm hervor – und irgendwie nehme ich ihm das ab. Denn neben mir sitzt Klaus Ludwig, zu diesem Zeitpunkt 48-jährig, der sich die feuerfesten Handschuhe überstreift. Er richtet den Blick nach vorn, zum Ende der Boxengasse des Hockenheimrings. Die Hitze flimmert, es ist Mittwoch, der 26. August 1998, ein Tag im Hochsommer. Peter Wyss, mein Schweizer Auftraggeber beim Wochen-Fachblatt „motorsport aktuell“, hat mir ins Urlaubsdomizil nach Maurach am Achensee, das liegt in Tirol, ein Fax geschickt. Es erreicht mich auf Umwegen. Denn die einfache Bleibe in den Bergen besitzt kein Faxgerät. Nach fünf Minuten stellt die Dusche automatisch das warme Wasser ab. Doch als ich das Papier schließlich in den Händen halte, weicht der Minimalismus einem Gefühl von großer, weiter Welt. Da steht geschrieben: „Wir möchten Ihnen den AMG-Mercedes CLK GTR und die FIA-GT-Weltmeisterschaft näherbringen. Auf dem Hockenheimring – mit Norbert Haug und Klaus Ludwig.“ Uta, zu dieser Zeit meine Lebens(abschnitts)Gefährtin, und ich unterbrechen unsere ersten gemeinsamen Ferien. Dieser Beschluss ist auf eine List zurückzuführen: Ich verspreche hoch und heilig, vom Hockenheimring aus zumindest noch einmal zurück ins Allgäu zu fahren. Ich habe diese Tour schon einmal als 18-Jähriger mit meinem Vater gemacht – 1985, um meine Götter in den feuerfesten Rennanzügen bei der Endurance-Weltmeisterschaft auf dem Hockenheimring zu sehen. Auch Klaus Ludwig, der für mich zu dieser Zeit unerreichbar zu sein scheint. Ich bin Schüler, Gymnasiast. Eigentlich soll ich Schauspiel studieren,. meine Lehrer liegen mir damit spätestens seit Beginn der Neuen Deutschen Welle 1982 in den Ohren. Als ich Karl „Kralle“ Krawinkel, den Gitarristen des ostfriesischen „NDW“-Phänomens „Trio“, auf immer mehr Bühnen der Stadt Moers zu imitieren beginne, steht für alle Außenstehenden fest: „Unser Carsten, der geht mal zum Theater, zum Film, zum Fernsehen oder wenigstens zum Musical!“ Bloß für mich steht das nicht fest. Denn als am 1. September 1985 in Spa-Francorchamps Stefan Bellof stirbt, treffe ich am nächsten Tag, noch schwer schockiert und ebenso schwer verliebt in ein erst 17-jähriges Mädchen mit pechschwarzem Haar unter einem schief sitzenden Hut, eine andere Entscheidung, und sie steht bis heute: Ich will Reporter werden, Geschichten erzählen, die unter die Haut gehen! An eine klassische (PR-)Karriere in der Industrie denke ich zu keinem Zeitpunkt. Ohne elterliches Geld und Reichtum aufgewachsen, weiß ich gar nicht erst, wie sich das anfühlt.
Dreizehn Jahre später habe ich die Dreißig hinter mir gelassen und auch mehr als viereinhalb Jahre beim Radio. In der Essener Grugahalle stehe ich 1994 vor 8.000 Menschen als Moderator auf der Bühne – ein bisschen ist schon was dran an den Weissagungen meiner damaligen Pauker. Anderntags, es ist der 9. Oktober 1994, wird Klaus Ludwig auf dem Hockenheimring zum dritten Mal DTM-Champion – und ich bin nach einer Nachtfahrt live dabei, sogar die Schminke klebt noch auf der Haut. Am Ende jenes Jahres werde ich nach rennsport revue mein zweites, im Eigenverlag produziertes Buch herausbringen, und ein paar Fotos fehlen mir noch. So erlebe ich das unvergleichliche Flair eines DTM-Finales in „Hoggene“, und auf der 330 Kilometer langen Heimfahrt zurück nach Moers an den Niederrhein verspüre ich nicht den leisesten Anflug von Müdigkeit. Zu beseelt bin ich von den Bildern, den Eindrücken, den Emotionen. Drei Jahre später wird Peter Wyss mich fragen, ob ich für „motorsport aktuell“ von der neuen FIA-GT-Meisterschaft berichten möchte. Ich zögere nicht einen Augenblick und sage zu. So werde ich zum Meinungsmittler, der zuallererst von den Rennen in ganz Europa berichtet – schon immer ist der Zeitvorteil das Zauberwort, heute bietet das Livestreaming die Antwort. Das liegt noch in weiter Ferne, als ich freitags vor dem GT-Rennen in Helsinki auf Klaus Ludwig treffe. Er sitzt, gut zweieinhalb Jahre nach seinem ruckartigen Abgang bei AMG-Mercedes und dem Wechsel ins Opel Team Rosberg, zum ersten Mal wieder im Daimler. Er läuft im Fahrerlager ein paar Schritte neben mir her, und was er mir dabei mit auf den Weg gibt, klingt unglaublich: „Ich habe mir Deinen Bericht aus Silverstone durchgelesen – endlich kommt mal einer, der die Dinge anders sieht und anfasst!“ Es ist der Beginn einer (Arbeits-)Beziehung zu einem großen Star einerseits, daran lässt Klaus Ludwig niemals den leisesten Zweifel, aber eben auch zu einem auffallend strukturierten Profi. Einem, der auf den Punkt genau weiß, was er will – und was es braucht, um es zu bekommen. Das mag manchen unheimlich erscheinen, mir jedoch imponiert dieser Stil, diese allein am Ergebnis ausgerichtete Strategie. Ich lerne in meinem späteren Leben nur noch einen weiteren Menschen kennen, der genauso geartet ist, der genauso polarisiert und der ein genauso großes Idol für mich ist: Reinhold Messner, der Extrembergsteiger aus Südtirol. Als ich in die FIA-GT-Meisterschaft komme und nach Le Mans, verschlinge ich seine Bücher regelrecht. Eins trägt den Titel: „Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will“. Das bin ich, das gefällt mir! Dass die meisten meiner neuen Reporter-Kollegen auf der Weltbühne des Sports eher einem Gesellschaftsroman entsprungen zu sein scheinen als einer nach kaltem Zigarettenrauch müffelnden Redaktion, ist mehr als nur eine Randnotiz wert. Ich hingegen zelebriere meinen Auftritt im Fahrerlager mit einem kaum mehr als 60 PS leistenden Opel Corsa B Diesel – auch an jenem Hochsommertag 1998 in Hockenheim, als ich mit dem Mercedes CLK GTR, Norbert Haug – und Klaus Ludwig – verabredet bin.
Der Vorabend wird lang, nachdem mich bei der Ankunft im Walkershof bei Reilingen fast der Schlag getroffen hat: Da liegen, auf den beiden Kopfkissen drapiert, jeweils ein fast lebensgroßes Modell des GT-Mercedes und eine faltbare Regenjacke mit Stern, ich besitze beides noch heute. Dann bittet Norbert Haug zu „43er“ und Zigarren. Mich beschleicht ein Gedanke. „So muss es hinter den Kulissen der DTM zugegangen sein – als es sie noch gab!“ Denn im September 1996 haben sich die Vorstände von Opel und Alfa Romeo in einer gemeinsamen Verlautbarung aus der internationalisierten DTM-Nachfolgeserie ITC zurückgezogen und ein Vakuum hinterlassen. Mercedes-Benz wechselt daraufhin in die Internationale FIA-GT-Meisterschaft. Viele der Top-Technologien, die zuletzt bei der 520 PS-starken C-Klasse im Kampf mit der Allrad-Konkurrenz aus Rüsselsheim und aus Italien zum Einsatz gekommen sind, können auf den neuen CLK GTR mit 600 PS aus zwölf Zylindern angewandt werden. Obwohl 1998 eine noch radikalere Version mit einem Achtzylindermotor antritt, bringt das Werksteam zum Pressetermin auf den Hockenheimring das Vorjahrsmodell mit. Es ist unter anderem mit einer Karbon-Bremsanlage ausgerüstet. Während die Sattelgehäuse noch aus einer Leichtmetall-Legierung werden, bestehen die Reibscheiben aus Verbundmaterial. In Le Mans ist das der allerletzte Schrei, und der französische Marktführer „Carbone Industrie“ ist auf einmal in aller Munde – vor allem wegen des schmierigen, schwarzen Abriebs, der sich spätestens ab Runde zwei auf den Karosserien der Sportwagen-Weltelite wie ein Puderzucker niederlässt. Welche tierische Verzögerung mit den schwarzen Scheiben möglich ist, male ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht aus. Zuerst heißt es erst einmal: anschnallen auf dem zweiten Sitz. tief durchatmen im engen, geliehenen Rennoverall und nach dem mitgebrachten Karthelm fingern, einem stilechten Simpson im Airbrush-Design aus dem Disneyland Paris. Auch diesen blau lackierten Kopfschutz besitze ich bis heute. Und dann sagt Klaus Ludwig nur diesen einen, unvergesslichen Satz: „Junge, Dich wollte ich schon immer mal mitnehmen!“ Der Zwölfzylinder-Motor bellt auf, es geht los, die Fuhre setzt sich in Bewegung, es gibt von nun kein Halten mehr: Himmel, ist das tief hier – wenn jetzt auch nur eine Coladose herangerollt kommt, dann knallt’s!“ Die Checklap über den kleinen Kurs des Hockenheimrings lässt erst einmal wieder Vertrauen aufkommen. Alle Abläufe sind präzise, nichts rutscht, nichts geht über die weiße Linie hinaus – bis zur langen Rechtsbiegung vor Start und Ziel. Die Aufwärmrunde ist beendet. Als die Räder wieder gerade stehen, bricht der Sturm los. Infernalisch beschleunigt der Zwölfzylinder durch, der ersten Rechts nach der Geraden entgegen. Kurz vor dem Einlenkpunkt dann die brutale Verzögerung durch die Karbon-Bremse: Das sind neue, nie gekannte Dimensionen!
Der Rest der brachialen Hatz verläuft wie in Trance – zu massiv sind die Kräfte, die Eindrücke. Wie selbstverständlich rollt der GT1-Supersportwagen nach der zweiten Runde in die Boxengasse zurück. Abrupt stellt der Motor ab. Ich nehme den Helm ab, bevor ich mich aus der engen Kanzel stemme. Die Tür öffnet nach vorn, klassische Flügeltüren sind aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Dann stehe ich wieder mit beiden Beinen auf der Erde: Welt, Du hast mich wieder! Zwei Stunden später treffe ich Klaus Ludwig beim Buffet. Es gibt Salat, mehr nicht. Mit dem 49. Geburtstag vor Augen, will er noch einmal GT-Weltmeister werden. Er zieht im internen Duell mit seinem jüngeren Teamkollegen Bernd Schneider sämtliche Register, schwört den kleinsten Mitarbeiterkreis darauf ein, einen ganzen Turn im Rennen auf weichen, eigentlich ungeeigneten Qualifikationsreifen zu fahren. Nur er weiß nach geheimen Testfahrten, dass das geht. Schneider hingegen setzt auf harte Pneus – und zieht gegen den Altmeister den Kürzeren. Ludwig, hinter den Kulissen ganz Strippenzieher und Antreiber, hat noch einmal zugeschlagen. Am Ende des Jahres treten er und Branchenkollege Harald Grohs gleichzeitig in den Ruhestand – und beide werden sie rückfällig. Ludwig verteidigt seinen Weltmeistertitel zwar nicht, kommt aber als 50-Jähriger in die DTM 2000 zurück. Die einstige Renommier-Rennserie, die erste Bundesliga der Tourenwagen, wird fünf Jahre nach Bernd Schneiders letztem Titelgewinn neu installiert. Und alles, was Rang und Namen hat, fährt noch einmal mit. Schneider natürlich, der gleich das Auftaktrennen auf dem Hockenheimring gewinnt – und Klaus Ludwig, der auf dem Sachsenring als 50-Jähriger noch einmal die oberste Stufe des Siegerpodiums erklimmt. Am Jahresende hat er seine Schuldigkeit getan, er zieht sich abermals aus dem Rampenlicht zurück. Ganz lassen kann es der passionierte Jäger auch in den folgenden Jahren nicht. Immer wieder zieht es ihn zum 24-Stunden-Rennen auf die Nürburgring-Nordschleife, mit dem Porsche des Betzdorfers Jürgen Alzen ist er weiterhin Spitzenklasse. Am 18. August 2008 gewinnt er mit 58 Jahren noch einmal ein großes Rennen auf seiner Heimstrecke in der Eifel. Zusammen mit dem erst 31-jährigen Münchner Dominik Schwager dominiert er mit der Callaway Corvette von Ernst Wöhr aus Weingarten das ADAC-GT-Masters. Die fahrerische Extraklasse, mit der er seinen Verfolger und Teamkollegen Sascha Bert abhängt, ist so eindrucksvoll wie eh und je. 2012 tritt er nach einer spektakulären Kollision beim 24-Stunden-Rennen Nürburgring wieder einmal zurück, 2017 kehrt er wieder einmal zurück. Markus Wüstefeld lädt ihn zum Gastspiel im Mercedes 190E 2.5-16 Klasse 1, einem Nachbau seines 1993er-AMG-Werkswagens, auf dem Nürburgring ein. Das Rennen findet nicht nur bei strömendem Regen statt, sondern auch im Rahmenprogramm der heutigen DTM. Es wird zur Gala-Vorstellung. Klaus Ludwig schließt wie zu seinen besten Zeiten zum Führungstrio auf, er liefert sich einen tollen Kampf mit Volker Strycek im roten 1990er-Opel Omega 24V, der von einer weicheren Fahrwerksabstimmung profitiert. Nach dem Fahrerwechsel zur Rennmitte wird Fahrzeugeigner Wüstefeld in eine Kollision verwickelt. Das Duo scheidet aus, der Mercedes wird arg zugerichtet und ist bis heute nicht wieder zu einem Rennen erschienen.
2018 wechselt Klaus Ludwig für drei aufeinanderfolgende Einsätze in die C-Klasse von Jörg Hatscher aus Oldenburg – im Gegensatz zu Wüstefelds 16-Ventiler keine Replika. Jan Magnussen, Juan-Pablo Montoya und Riccardo Zonta steuern den 520-PS-Boliden beim Schwanengesang der ITC 1996. Gleich beim ersten Auftritt auf dem niederländischen Dünenkurs von Zandvoort liegen er und Jörg Hatscher vorn. Mögliches Motto: Er kam, sah und siegte – ganz so wie 1979, als er als 29-Jähriger mit dem Kremer-Porsche 935 K3, dem „Wunderauto“ aus Köln-Bilderstöckchen, die Deutsche Automobil-Rennsportmeisterschaft dominiert. Auch in Zandvoort fährt er damals unwiderstehlich voraus. Er war und ist ein Champion in jeder Lebensphase. Am 5. Oktober 2019 wird er, das steht schon jetzt fest, seinen 70. Geburtstag im Renncockpit feiern – eine Story, wie sie vielleicht nur einziges Mal geschrieben wird. Und Sie werden sie miterleben. In rennsport revue natürlich, als Zuschauer vor Ort und im Livestream. Letzterer wird vom Verfasser dieser Zeilen kommentiert werden. Sie wissen schon: Die Lehrer, sie hatten damals Recht.
Verantwortlich für den Inhalt: Carsten Krome Netzwerkeins
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