In grauer Vorzeit genügte den großen Alchimisten der Tuningbranche ein Schraubenzieher, mit dem sie über die Vergasereinstellung ihrer Rennwagen die Motorcharakteristik bestimmen konnten. Diese hohe Kunst des Feintunings – daher stammt der inzwischen recht unpopuläre Begriff des Tuners – entschied über Sieg und Niederlage. Inzwischen sind andere Faktoren ausschlaggebend. Die Applikation der digitalen Steuerungs-Systeme ist bestimmend für die bestmögliche Performance des Motors – im Sport und auf der Straße. Dabei kommt es auf die genaue Erfassung und Auswertung der anfallenden Messdaten sowie der – unter anderem – daraus abgeleiteten Änderungen in der Fahrzeugelektronik an – eine von vielen Kernkompetenzen der Spezialisten von ETAS, deren blaue Boxen branchenweit bekannt sind. Seit der Saison 2011 zeigt das schwäbische Unternehmen in der Langstrecken-Rennszene auf der Nürburgring-Nordschleife auch für die Allgemeinheit sichtbar Flagge – ein Blick hinter die Kulissen.
26. Juni 2011, Nürburgring-Nordschleife: Vor einer Viertelmillion Zuschauer überquert ein silberner Audi die Ziellinie des ADAC-Zurich-24-Stunden-Rennens, des Langstrecken-Klassikers schlechthin. Der Wagen mit Nummer 125 hat keinen Gesamtsieg, sondern den 14. Rang im Feld der 202 Starter eingefahren. Die Freude bei Frank Biela, Martin Tomczyk, Jens Klingmann und Michael Ammermüller, den Steuer-Leuten im Cockpit, ist dennoch auffallend groß. Sie haben nicht nur das erfolgreichste Fahrzeug mit Frontantrieb über die Distanz gebracht, sondern gleichzeitig auch einen Entwicklungsauftrag erfüllt. Es ist die erste 24-Stunden-Prüfung, die der Typ TT RS absolviert: eine Neuschöpfung für das erweiterte Kundensport-Programm der quattro gmbh, die mit dem Audi R8 LMS in der FIA-GT3-Kategorie bereits ganz oben mitmischt. Um einen Unterbau einzuziehen für all jene Kunden, die eher auf Klassen- denn auf Gesamtsiege fokussiert sind und auch etwas weniger Budget zur Verfügung haben, kreiert ein Mönchengladbacher Brüderpaar in enger Abstimmung mit dem Audi-Kundensport den TT RS. In den Jahren zuvor haben Martin und Nicolas “Nicki” Raeder eine Mehrmarken-Strategie verfolgt. 2003 treten sie mit einem Porsche in Erscheinung, anschließend folgen ein V8STAR mit Jaguar-Silhouette, ein Lamborghini Gallardo und schließlich ein Ford GT. 2010 begleiten sie die Entstehung des Audi TT RS, der rechtzeitig zum Saisonfinale der Langstrecken-Meisterschaft (VLN) Nürburgring einsatzbereit ist und in strahlendem Weiß seinen Einstand gibt. Anhand zweier großer Lufteinlässe in der Bugschürze ist er eindeutig zu identifizieren, und auch bei den Erprobungsrennen im Frühjahr 2011 behält der Fronttriebler mit dem 377 PS leistenden Fünfzylinder-Reihen-Turbomotor seine neutrale Außenfarbe. Erst zum 24-Stunden-Rennen legt der Anwärter auf Klassensiege in der Kategorie SP 4T sein silbergraues Gewand an – der für die Ingolstädter Premiummarke mit den vier Ringen prägende Auftritt. Beim wichtigen Sechs-Stunden-ADAC-Ruhr-Pokal-Rennen, das am 27. August 2011 stattfindet, erringt dieses Aufsehen erregende Sportfahrzeug bei wechselhaften Bedingungen den Sieg nach überraschender Pole-Position im Training. Nie zuvor in der Geschichte der 1977 begründeten Langstrecken-Rennserie auf dem Nürburgring ist ein Fronttriebler vom ersten Startplatz aus ins Rennen gegangen.
Die erstaunliche Performance des vergleichsweise kleinen Audi ist das Resultat einer fein säuberlich austarierten Abstimmung sämtlicher Komponenten. Nur so kann es überhaupt gelingen, maximal 530 Newtonmeter Drehmoment, die zwischen 2.500 und 4.000/min freigesetzt werden, schlupffrei in Vortrieb umzusetzen – keine leichte Aufgabe bei einem Fronttriebler. Die genaue Applikation aller digitalen Steuermodule ist essenziell auf dem Weg zum Siegerwagen. Eine Grundvoraussetzung dazu ist die Erfassung, Speicherung und Auswertung der Messdaten, die während einer jeden Betriebsminute in einem massenhaften Volumen anfallen. In Blau gehalten, sind daher einige Kästchen an Bord, die eine wesentliche Funktion zu erfüllen haben und helfen, die Komplexität zu beherrschen. Sie sind zwar nicht das Gehirn des Rennwagens, denn das liegt unverändert in der digitalen Steuerung des Antriebs. Vielmehr sind diese zusätzlichen Module sozusagen das EKG. Fortwährend nehmen sie Daten auf, speichern diese und geben sie weiter. So wird eine exakte Analyse aller betriebsrelevanten Daten vollzogen. Anhand dieser Daten kann anschließend die für die Fahrzeugcharakteristik und Fahrbarkeit ausschlaggebende Applikation auf die existierenden Steuerungs-Einheiten erfolgen. Gehört, wie im Juni 2011 beim Audi TT RS gesehen, ein 24-Stunden-Rennen zum Test- und Entwicklungsprogramm, fließt während der gesamten 24 Rennstunden ein gewaltiger Datenstrom in Echtzeit. Stark aufgestellt im Marktsegment der Fahrzeugmessdaten-Erfassung, -Auswertung und Steuergeräte-Applikation ist das schwäbische Unternehmen ETAS. Für jeden Automobil-Hersteller und für jeden Wagentyp haben die Stuttgarter eine auf individuellste Erfordernisse zugeschnittene Lösung nach modernsten Standards zu bieten. Einheitlich sind lediglich die Farbe und Formgebung der Datenträger – allesamt blaue Module mit den unterschiedlichsten Funktionen. Diese bilden einen Kanon und ergeben für die verantwortlichen Ingenieure an der Rennstrecke ein unverzichtbar gewordenes, großes Ganzes.
Obendrein haben Nicolas und Martin Raeder die kleinen Superhirne einem Stresstest unterzogen, der auf den ersten Blick beabsichtigt gewesen zu sein scheint. Dabei war die Platzierung eines Datenloggers in der ultraheißen Umgebung des Abgasstrangs anders überhaupt nicht lösbar. Trotz der thermischen Dauerbelastung über 24 Rennstunden funktionierte die ETAS-Hardware absolut verzugs- und störungsfrei. Im Zeitalter des “Fully Connected High Performance Cars”, des voll vernetzten Hochleistungs-(Renn-)Fahrzeugs, sind verschiedene Optionen für den kontinuierlichen Transfer des Datenmaterials abrufbar: die klassische Verbindung mit einem Laptop während der Boxenaufenthalte oder die Übermittlung über eine mobile Online-Lösung. Auf diesem Sektor liegt im Langstrecken-Spitzensport unserer Tage ein besonderer Akzent – ein Beispiel sind die Hersteller-Engagements bei den 24 Stunden von Le Mans. Hier kann der Bogen zu den Gebrüdern Raeder mit Leichtigkeit geschlagen werden, denn ihr epochaler Gesamtsieg mit dem Audi TT RS beim Sechs-Stunden-Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife 2011 war für sie die Initialzündung, um ein höheres Ziel anzustreben: die Nachfolge Olaf Mantheys. In den Fahrerlagern war durchgesickert, dass der fünffache Gewinner des 24-Stunden-Rennens Nürburgring auf Porsche mit einem Generationswechsel liebäugelte. Mutig ergriffen Martin und Nicki Raeder im Herbst des Jahres 2011 die Initiative und brachten sich in die Diskussion mit ein. Dies führte um die Jahreswende zur Bekanntgabe, dass das Duo schrittweise in die Geschäftsleitung von Manthey-Racing eintreten und diese später ganz übernehmen würde. Dieser zweite Step ist inzwischen vollzogen, und die Rückkehr der Gebrüder Raeder zu Porsche war auch für den Technologie-Partner ETAS mit Konsequenzen verbunden. Beim 24-Stunden-Rennen Nürburgring 2013 waren zwei grün-gelbe Manthey-Porsche, besetzt unter anderem mit Werksfahrern, unter dem ETAS-Banner unterwegs. Im Sommer 2014 erfolgte der allmähliche Umstieg auf die neue, die siebte Baureihe des Porsche 911, den Typ 991. Doch im Gegensatz zum Audi TT RS handelte es sich hier um ein bereits fertig durchentwickeltes Kunden-Rennfahrzeug, das naturgemäß keiner Applikation mehr bedurfte.
Dennoch weiß Alex Schneider, bei Manthey-Racing für die Datenerfassung und -analyse zuständig, von Herausforderungen zu berichten. Diese sind ganz einfach auf unterschiedliche Anwendungsbereiche zurückzuführen. So können die vorgeschriebenen Reifen von Rennserie zu Rennserie unterschiedlich sein – Michelin zum Beispiel in der Langstrecken-Meisterschaft auf dem Nürburgring oder Pirelli in der Blancpain Endurance Series mit den 24 Stunden von Spa-Francorchamps als Highlight. Dabei können sich die Radumfänge geringfügig unterscheiden, was auf den ersten Blick unbedeutend zu sein scheint. In der Realität jedoch muss eine Adaption auf die veränderten Gegebenheiten erfolgen, und diese erfolgt unter Zuhilfenahme der Speicherdaten in den blauen ETAS-Boxen. Diese erfüllen hier eine Doppelfunktion. Zum einen werden mit ihnen die Daten erfasst, auf deren Grundlage die Adaption beruht, zum anderen wird die Adaption über die ETAS-Software und die blauen Boxen wieder ins Fahrzeug zurück übertragen. Es ist symptomatisch für das alljährlich steigende Professionalitätsniveau im Motorsport, dass das fast wissenschaftliche Ausarbeiten feinster Nuancen einen Testaufwand erfordert, wie er früher einmal ausschließlich auf dem Vollprofi-Sektor gefordert war. Ein anderes Kernthema bei der Umstellung von Vier- auf 24-Stunden-Distanzen ist der veränderte Strombedarf, der vorausberechnet werden muss. Andernfalls kann es passieren, dass auch ein sorgsam vorbereitetes Spitzenauto mit beleuchteten Displays und Zusatz-Scheinwerfern ohne eine Anpassung urplötzlich im Dunklen steht. Eine Fernperspektive der individuellen Applikation liegt in der für die jeweilige Rennstrecke definierten, für normalbegabte Fahrer beherrschbaren Motor- und Leistungscharakteristik. Hier, genau an dieser Stelle, scheiden sich die Geister. Denn die ETAS-Technologie ist erstrangig an Automobilhersteller und -zulieferer adressiert, weniger an den privaten Endverbraucher. Wenn allerdings ein ausgesprochen Anwender-freundliches Setting von einem Kundensport-Anbieter wie Porsche oder Audi beauftragt wird, um möglichst viele Amateure davon profitieren zu lassen, schließt sich der Kreis wieder. Es ist fest in ihrer Unternehmenshistorie verankert, dass die Konzernmarke der Volkswagen-Gruppe in dieser Hinsicht besonders gut aufgestellt ist. Fazit: Tradition trägt die Jetztzeit. Dank ETAS in Echtzeit.
Weitere Informationen: http://www.etas.com/de/
Verantwortlich für den Inhalt: Carsten Krome Netzwerkeins
Fotografie: Carsten Krome Netzwerkeins
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